Freitag, 20. März 2020

Was du dir niemals erträumt hättest...



Ich wollte sie überraschen. An einem Ort, wo sie niemals damit rechnen würde. 2616m über dem Meeresspiegel. Ich wusste, dass sie hier in den Bergen unterwegs war. Leider ohne mich, denn ich hatte Dienst. Wir sahen uns sehr selten. Umso vehementer versuchte ich, doch noch einen Weg zu finden, um sie treffen zu können. Ich ließ keinen Stein auf dem anderen. Die eine Arbeitskollegin bat ich, eine Stunde früher gehen zu dürfen. Meine Kollegin am Folgetag fragte ich, ob wir die Schichten tauschen könnten. Es handle sich um eine außergewöhnliche Überraschung, erklärte ich ihnen. In meinen Rucksack packte ich Hüttenschlafsack, Handtuch und Wechselzeug, damit ich am nächsten Tag wieder direkt in die Arbeit kommen konnte. Nun musste ich nur noch sicherstellen, dass sie ohne Zwischenfälle durchgekommen war und am Abend die Zielhütte erreichte. Ich kannte den Höhenweg und rief bei der vorigen Station an, um dem Hüttenwirt einen kurzen Steckbrief durchzugeben: Ihre Haare blond mit leichtem Rotschimmer, ihre Erscheinung angenehm und unaufdringlich. Aja! – Und sie spricht mit deutschem Akzent. Der junge Wirt erinnerte sich, eine Zigarette mit ihr gewuzelt zu haben, und versicherte mir, dass sie heute zeitig in der Früh Richtung Glungezer losmarschiert war.
Mein Arbeitstag verging wie im Flug. In Gedanken war ich bereits bei meinem anschließenden Radwander-Abenteuer. Ich motivierte eine gute Freundin, mich auf der ersten Etappe mit dem Mountainbike zu begleiten. Im Mittelgebirge angekommen, spürten wir die ersten Regentropfen, gefolgt von sanftem Donnergrollen. Tief im Inneren wusste ich, auch das Wetter würde noch mitspielen – es musste einfach so sein! Aufgelockert durch gute Gespräche, fiel uns das Pedalieren durch die drückende Schwüle, auf dem steilen Pfad nur halb so schwer. In der Abendstunde erreichten wir die von Zirben umrahmte Hochebene am Fuße des Patscher Kofels. Wir belohnten uns mit einer genüsslichen Jause, bevor ich den Aufstieg alleine fortsetzte.
Wie von Zauberhand geleitet, bewegte ich mich im Auge des Sturms. Rundum bedrohlich-düstere Wolkentürme, genau über mir ein schützend-blaues Himmelseck. Am Grat angelangt, wurde ich Zeugin eines magischen Dämmerungsspektakels. Inmitten der dicken Gewitterdecke tat sich eine tiefrote Raute auf. Die indirekte Sonne tauchte die Bergketten in ein anmutiges Licht.
Irgendwann konnte ich die giftgrünen Flechten auf den Steinplatten, die mich an eine Landkarte erinnerten, nicht mehr ausmachen. Zeit, die Stirnlampe auszupacken. Ich genoss die absolute Stille; diese Gewissheit, niemandem zu begegnen, alleine in den Bergen zu sein. Ein hektisches Klingeln ließ mich aufschrecken. Mit einer schnellen Kopfbewegung ließ ich den Scheinwerfer über die Bergwiesen gleiten. Elf neongelbe Augenpaare starrten mich verdutzt an. Die Wächterinnen der alpinen Nächte.
Bei jedem einzelnen Tritt in Richtung Hütte stieg meine Nervosität. Vor meinem inneren Auge eröffnete sich eine Szene wie im Film: Ich nähere mich ihr mit Gemach. Die Gäste ringsum in der Stube richten den Blick neugierig auf mich, bis auch sie sich schließlich zu mir umdreht. Ihre Augen glänzen vor Verwunderung. Mit aufgeregter Stimme, die sich nahezu überschlägt, ruft sie meinen Namen. Wir umarmen uns innig, während die umliegenden Tische in meiner Wahrnehmung verblassen. Doch dann meldet sich die Ratio zu Wort und verdrängt die verträumte Szene von der Bildfläche. Was, wenn sie schon schläft? Sie ist bereits mehrere Tage in Folge unterwegs und bestimmt erschöpft. Wecke ich sie auf? Oder warte ich, bis sie mich in der Früh bemerkt?
Noch eine Kurve... Mein Herz pumperte heftig und dies nicht wegen der Höhenluft. Ich atmete noch einmal tief ein, bevor ich mich in die Berghütte begab und mit Bedacht die Gaststube betrat. Mein Blick streifte umher, doch von ihr keine Spur. Etwas zögerlich wandte ich mich an den Hüttenwirt, der mich auf das Biwak verwies. Ich hätte Glück, eines der sechs Betten war noch frei.
Majestätisch stand sie da, die Metallkuppel mit der durchsichtigen Decke. Ich blickte nach oben. Die Nacht war sternenklar. Auf Zehenspitzen schlich ich, so gut es ging, die Eisenstiege empor und öffnete leise die Tür. Noch waren die Betten leer, nur eines nicht. Ruhig lag sie da. Ihr Brustkorb, der sich langsam hob und senkte. Ein Laut nur, eine Berührung, doch ich wartete gebannt. Soll ich es wagen? Flüstern? Sie sanft wachrütteln? Prompt machte ich kehrt. Ich brauchte Zeit. Suchte einen Vorwand und ging zurück in die Hütte, um meine Übernachtung zu bezahlen. „Komm, weck sie auf! Setzt euch doch noch herüber in die Stube auf ein Bier!“
Noch immer unschlüssig näherte ich mich abermals dem Biwak. Ich öffnete die Tür, trat ein und vernahm ein leises Rascheln. Sie drehte sich um!

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